Lied einer alten Frau

Ich wollt immer so alt werden
Aber nie wollt` ich alt sein
Und nun bin ich einundachtzig
Und lieg wach und lieg allein
Er schläft schon seit vielen Jahren
Nicht mehr hier in meinem Bett
Schnarcht wie eine Dampfmaschine
Er liegt drüben im Kabinett

Früher trank ich noch am Abend
Eine ganze Flasche Bier
Nur um vor ihm einzuschlafen
Heute wach ich auf um vier
Und lieg still und hör ihn sägen
Er soll schnarchen wie er mag
Denn ich weiß ja nicht wie lange
Ja ich weiß ja nicht wie lange
Ich ihn überhaupt noch hab

Als Kind hatt’ ich Langeweile
Seit ich alt bin rast die Zeit
Doch sie wird ja gar nicht schneller
Mir fehlt die Geschwindigkeit
Früher wusch ich mir die Haare
Räumte auf, alles ruck zuck
Heute dauert alles lange
Und es ist ja schon ein Glück

Wenn die Ampel einmal grün bleibt
Dass ich überqueren kann
Ich geh langsam auch wenn ’s rot wird
Neben mir da keucht mein Mann
Und ich kann ja gar nicht ohne ihn gehen
Bin so lange schon bei ihm
Und ich hoff, wir gehen zusammen
Ja ich hoff, wir gehen zusammen
Dass ich nie alleine bin

Früher sagte man mir immer
Man wird weise mit der Zeit
Aber ich glaub drauf warte
Ich noch eine Ewigkeit
Denn man wird ja gar nicht schlauer
Nur gerührter bin ich heut
Weil dich jeder Sonnentag
In meinem Alter freut

Wenn ich junge Leute anschau
Tun sie mir oft richtig leid
Diese Angst, was zu versäumen
Immer rennen, keine Zeit
Immer sind sie auf der Suche
Denken nichts hat einen Zweck
Und haben sie doch was gefunden
Werfen sie ’s gleich wieder weg

Ich wollt immer so alt werden
Aber nie wollt’ ich alt sein
Und nun bin ich einundachtzig
Und lieg wach und lieg allein
Und ich wünsche, wenn’s soweit ist
Und ich einmal gehen muss
Dass ich einfach nicht aufwache
Oder umkippe und Schluss

Vielleicht gibt’s ein Abenteuer
Nach dem Leben irgendwo
Das wär spannend, doch heut
Bin ich aufgewacht und war total froh
Und lieg still und hör ihn sägen
Und find’s schön, dass ich ihn hab
Denn man weiß ja nicht wie lang noch
Ich weiß ja nicht wie lang noch
Vielleicht ist’s mein letzter Tag

Text: Georg Clementi inspiriert von Wie fühlt sich das Alter an?  von Henning Sussebach DIE ZEIT Nr: 41 vom 1. Oktober 2014
Musik: Karsten Riedel

Sigrid Gerlach: Akkordeon
Tom Reif: Gitarre und alle anderen Instrumente

ZEIT-Artikel lesen

Lied anhören auf:

itunes

 Spotify

 youtube